
Vignetten, Vol. 37

Fundort: Burger, Hermann: Die künstliche Mutter.
Frankfurt/M.: Fischer 1982. S. 166.
Pluralis sanitatis, also die Verwendung der ersten Person Plural in Sätzen wie „Wie geht es uns denn heute?“ oder „Hatten wir Stuhlgang?“ – toll, habe ich zuerst bei Hermann Burger gesehen und ihm automatisch auch sofort die Urheberschaft zugeschrieben, da es zu seinen anderen poeto-grammatischen Spielereien passt, etwa den konjunktivischen Substantiven („Töd“ als möglicherweise eintretender Tod in Schilten und derlei).
Ich wurde belehrt: Das scheint ein bekanntes linguistisches Konzept zu sein, ganz analog dem bekannteren Pluralis majestatis. Der Duden beschreibt ihn auch als „Krankenschwesternplural„, erwähnt dazu noch den Pluralis modestiae, wenn jemand „wir“ statt „ich“ sagt, um die eigene Person etwas zurückzunehmen – ungefähr, wenn eine Politikerin eine Stichwahl gewinnt und dann „Wir waren von Anfang an zuversichtlich und haben das jetzt geschafft“ sagt.
Der Pluralis modestiae wird oft mit dem Pluralis auctoris ungefähr gleichgesetzt. Das ist die im Deutschen langsam aussterbende Angewohnheit, „wir“ in (vor allem) akademischen Texten zu verwenden („In diesem Kapitel werden wir zeigen“, „Damit wären wir am Schluss unserer Ausführungen“), die sich im Französischen meiner Erfahrung nach aber noch beinahe selbstverständlicher Verwendung erfreut…
Daran angelehnt gibt es noch einen Pluralis societatis, wie mir der dritte Teil des Buches Sprachgeschichte (Hg. Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger) mitteilt. Das ist, wenn eine Rednerin oder Autorin bei ihren Ausführungen das Publikum mit einbezieht. Das Buch benennt darüber hinaus auch den Pluralis reverentiae, 2. Person Plural („Eure Majestät“).
Ich bin neulich wieder auf diesen Plural gestossen, in Elio Pellins verspieltem Kurzroman Der Himmel als Abgrund über euch. Pellin fügt den genannten noch eine weitere Mehrzahl hinzu, den Pluralis praegnationis (13. Kapitel):
Das ist eine Neuschöpfung, soweit ich sehe, und es geht ungefähr darum, ob die hier sprechende Salomé von Erlach, da sie schwanger ist, mit grösserer Berechtigung einen der anderen hier disktuierten Plurale verwendet.
Wie dem auch sei: Pluralis sanitatis, wunderbar, nicht von Burger erfunden und auch nicht der einzige kuriose Plural.
Diese Wörter wurden laut der Online-Duden-Webseite so ungefähr Mitte März 2020 „häufig nachgeschlagen“. Natürlich (und hier für die Nachwelt): Das sind die Wörter bzw. Produkte, ohne die es die Welt zu jener Märzenzeit nicht durch die Corona-Krise geschafft hätte. Bei Google-Trends erstaunt eine solche Suche also nicht unbedingt (man muss ja googeln, ob’s im Supermarkt um die Ecke noch „Reis“ gibt und wieviel 500 Gramm „Pasta“ jetzt kosten). Bei einem Wörterbuch ist die Schlagwortsuche doch kurios. Meine erste Annahme war, dass der Online-Duden einfach schummelt und sich die Wörter bei Google Trends o.ä. besorgt hat – das hat aber nur sehr bedingt mit den Google Trends jener Zeit übereingestimmt („Klopapier“ wurde tatsächlich wie verrück gegoogelt, aber z.B. für „Pasta“ habe ich keine entsprechende Google-Statistik gefunden). Jedenfalls liegt die Vermutung nahe, dass die „häufig nachgeschlagenen Wörter“ mehr oder weniger stark kuratiert sind. Das ist ja auch sinnvoll, sonst würden dort konsequent Dinge wie „wi(e)dersprechen“ und „R(h)yt(h)mus“ die Charts anführen. Ich hab mal beim Duden nachgefragt:
Die Antwort steht noch aus. Es bleibt spannend: Klopapier. Pasta. Pesto. Reis.